So kündigt sich ein autoritäres Regime an
Die Vertreibungspläne von AfD und Identitären klangen für viele Deutsche wie ein Tabubruch. Dabei ist das, was Martin Sellner in geheimer Runde ankündigte, in Österreich längst die öffentliche Position des aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten.
Seit nun schon einigen Wochen gehen in Deutschlands Städten regelmäßig hunderttausende Bürger und Bürgerinnen auf die Straße, um sich für den Schutz der liberalen Demokratie einzusetzen. Sie fürchten, dass rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien wichtige Nachkriegskonventionen über Bord werfen könnten, dar- unter die internationale Menschenrechtscharta, und sie fürchten es nicht ohne Grund: Die Proteste sind einerseits eine scharfe Reaktion auf aktuelle Meinungsumfragen (in manchen deutschen Bundesländern liegt die AfD an erster Stelle). Andererseits richten sie sich in erster Linie gegen den Vorschlag des Identitären-Chefs Martin Sellner, unerwünschte Menschen, offenbar auch jene mit deutscher Staatsbürgerschaft, zu »remigrieren«.
Der Gedanke, geäußert in geheimer Runde in einer Potsdamer Villa, löste einen Skandal aus, bei Politik, Medien, Zivilgesellschaft – und die Unruhe schwappte auch auf Österreich über. Ende Januar, knapp zwei Wochen nach Bekanntwerden des Potsdamer Treffens, ertönte bei einer Kundgebung vor dem Wiener Parlament die laute Stimme des Burgschauspielers Cornelius Obonya. Er hatte, so sagte er es, eine »schlechte Nachricht« an Österreichs Identitäre mitgebracht: »Aus diesem Land wird nicht mehr deportiert«. Auch in Sellners Heimat empfand man die »Remigrations«- Ideen offenbar als Tabubruch.
Aber waren sie das auch? Woher kam die Überraschung, woher die Vermutung, dass erst in Sellners geheimem Vortrag eine »rote Linie« überschritten wurde? Ist seine Strategie wirklich neu?
Wer in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nach Österreich blickte, sah dort den Boden, in dem derartige Ideen gedeihen konnten, in dem aus rechtsradikalen Positionen ein als zunehmend normal empfundener politischer Diskurs wurde.
Hier wurden einzeilige Reime wie »Schweinskotelett statt Minarett«, »Daham statt Islam« oder »Echte Volksvertreter, statt Europa- Verräter« ab den Nuller Jahren zu einer regelrechten Marke der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Herbert Kickl, der Mann, der sie als Spindoktor verantwortete, stand damals noch in der zweiten Reihe der Partei, hinter Jörg Haider und Heinz-Christian Strache. Später betrieb er die Diskursverschiebung als Innenminister und Parteivorsitzen- der mit immer schrilleren Tönen.
2018 wurde Kickls Äußerung, Asylbewerber »konzentriert an einem Ort zu halten«, im In- und Ausland als Anspielung auf Konzentrationslager verstanden. Ein Jahr später stellte er mit dem Satz, dass »das Recht der Politik zu folgen hat«, das rechtsstaatliche Prinzip und die Europäische Menschenrechtskonvention in Frage – und benannte das größte Erstaufnahmezentrum für Asylbewerber im niederösterreichischen Traiskirchen in ein »Ausreisezentrum« um. Nur einige der vielen sogenannten Einzel- fälle und rechtsextremen Tabubrüche, die von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) unter Sebastian Kurz geduldet wurden. Dabei wirkten sie wie eine aufhetzende Botschaft ans eigene Land: Vieles von dem, was heute schockiert, galt manchen schon damals wieder als sag- und wählbar.
Provokationen wie sie gehören zu den wichtigsten Strategien rechtsradikaler Gruppierungen: Mit markigen Sprüchen und kalkulierter Empörung erreicht man die Hegemonie in den Medien, zudem breite Resonanz, wie sie nun auch Sellner und der AfD zuteil wird.
Das rechtspopulistische Perpetuum Mobile dreht sich dadurch weiter und weiter: Auf jede Provokation folgt ein Skandal, auf jeden Skandal folgen Aufmerksamkeit und breite Empörung – woraufhin die Provokationen geleugnet, Opfer und Täter vertauscht werden. Zuletzt beginnt die Suche nach einer Verschwörung (Wer steckt »eigentlich« hinter dem jüngsten Skandal?) und angeblichen Schuldigen. Wenn irgendwann die Fakten ans Tageslicht kommen, entschuldigt man sich formhalber für die Provokation – und setzt sogleich die nächste.
In Österreich ist dieses Spiel seit Jahrzehnten bekannt, trotzdem spielen es Medien und Politik weiter fleißig mit. Und machten es da- durch erst so richtig groß. Viele Redaktionen haben den Erfolg der FPÖ über die Jahre geradezu herbeigeschrieben: Jörg Haider etwa schmückte seit 1986 etwa 50 Titelseiten der Wochenzeitung »profil«. Vergangene Woche schaute uns nun Martin Sellner vom Cover desselben Magazins an. Offensichtlich hat man aus der unmittelbaren Vergangenheit nichts gelernt.
Im Gegenteil: Prozesse wie diese haben es geschafft, dass das politische Spektrum Schritt für Schritt nach rechts rückte. Argumente, Slogans und völkisch-nativistische Narrative wurden zunehmend normalisiert und von konservativen Mainstream-Parteien wie der ÖVP übernommen, in der Hoffnung, den rechtsradikalen Parteien Wähler:innen abzuwerben, um einen drohen- den Machtverlust abzuwenden.
So verpackte Sebastian Kurz bei der Nationalratswahl 2019 unter anderem die restriktive Asyl- und Migrationspolitik der FPÖ in gesellschaftlich präsentablere Äußerungen. 258.000 skandalgeprüfte FPÖ- Wähler und -Wählerinnen holte er damit zur ÖVP, aber um welchen Preis? Mittlerweile sind viele von ihnen in ihre Heimatpartei zurückgewandert, wie jüngste Regionalwahlen bewiesen. Die von dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer so treffend als »rohe Bürgerlichkeit« bezeichnete Strategie ist gescheitert.
Stattdessen ist die FPÖ spätestens seit 1986 und Jörg Haiders innerparteilichem Putsch ein Modell- fall für andere Rechtsparteien, auch für die AfD. Und vieles von dem, was während der »Haiderisierung« auf ganz Europa ausstrahlte, liest sich erschreckend aktuell. Haider prangerte schon damals die »Eliten« an, setzte sich wie ein österreichischer Robin Hood angeblich für den »kleinen Mann« (und die »klei- ne Frau«) ein. Mitunter sah man ihn Bargeld verteilend auf den Straßen Kärntens.
»Österreich zuerst« war der Name eines Volksbegehrens 1993, das viele Vorschläge zur Assimilation von Migranten und Migrantinnen vorwegnahm, die später in die Fremdengesetzgebung einflossen. Und Haiders unrühmliche »Sager« zu den »anständigen Menschen« in der SS oder zur »ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich« konnten seine Karriere nur kurzfristig beschädigen. Beinahe wirkt es, als hätte Björn Höcke von ihm abgeschrieben.
Der Unterschied: In den Nuller Jahren wurden derartige Provokationen, Skandale und Tabubrüche noch sanktioniert. Die erste schwarz-blaue Koalition führte zu einer diplomatischen Isolation Österreichs auf EU-Ebene – die zweite im Jahr 2017 wurde klaglos akzeptiert. Wir erleben, dass Lügen, Desinformation, Xenophobie, Antisemitismus, NS-Vergleiche, Menschenrechtsverletzungen und die bewusste Aushöhlung demokratischer Institutionen straflos bleiben: Wir befinden uns daher – so der Politikwissenschaftler Cas Mudde – seit der Trump-Präsidentschaft in einer neuen Phase des Rechtspopulismus. Ich bezeichne sie als scham- lose Normalisierung.
In Österreich zeigt sie sich in einer nostalgischen Sehnsucht nach einer ethnisch homogenen, patriarchalen, stabilen Gemeinschaft, einer Retrotopie. Die FPÖ liegt der- zeit in Umfragen an erster Stelle und propagiert offen eine »Festung Österreich«. Diese, so Kickl, sollte den Weg einer »illiberalen Demokratie« nehmen: »Machen wir’s dem Orbán nach!« – „Nichts und niemand kann uns bremsen!«
Laut FPÖ hätten nur bestimmte Menschen in diese Festung Zu- tritt, nämlich weiße, christliche, deutsch-sprechende, heterosexuelle, also »echte« Österreicher und Österreicherinnen, möglichst ohne Migrationshintergrund. Karrierefrauen sind eher nicht er- wünscht, auch keine Menschen aus der LGBTQ-Community. Abtreibungen würden wohl erschwert.
Wenn Mütter zu Hause bleiben wollen, bekämen sie – so wurde es im Koalitionsvertrag der Salzburger Landesregierung zwischen ÖVP und FPÖ verwirklicht – eine Art Herdprämie.
Die Uhren würden also zurück- gedreht, in die Fünfziger Jahre oder noch früher. Was Martin Sellner und die AfD in geheimen Runden besprechen, ist in Österreich die öf- fentliche Position des aussichts- reichsten Kanzlerkandidaten. »Wir sind nicht rechtsextrem, sondern normal«, rief Kickl 2021 auf einem FPÖ-Parteitag, wenig später zeigte die Partei einen neuen Slogan: »Österreich normal«. Die AfD plakatierte zur gleichen Zeit den Slogan »Deutschland. Aber normal«. Es wirkt beinahe, als wäre die eine »Festung« der anderen ein Vorbild. Eine Abgrenzung zu den Identitären vertritt die FPÖ seit Kickls Vorsitz nicht. 2021 bezeichnete er die Sellner-Truppe verharmlosend als »NGO von rechts« und nannte sie ein »interessantes und unterstützenswertes Projekt«. So offen sagt es nicht einmal die AfD – doch sie kommt dem österreichischen Welt- und Vorbild immer näher.
Rechtsradikale Visionen, egal ob sie von Kickl oder Sellner kommen, beziehen sich auf ein vermeintlich homogenes Volk. Wer die »echten« Österreicher, die »echten« Deutschen sind, kann dabei immer wie- der neu und willkürlich bestimmt werden. Hautfarbe kann eine Rolle spielen, ein Name oder die Sprache, aber auch nur ein Gefühl. Wichtig ist, dass ein Kernland, die »Heimat«, vor scheinbar gefährlichen Eindringlingen geschützt werden muss, Blut und Boden gehören zusammen.
Angstmache bestimmt als übergeordnetes Argumentationsmuster die Kampagnen von AfD und FPÖ, willkürlich werden Sündenböcke für das jeweilige Bedrohungsszenario benannt. Dann taucht ein Retter aus der Not auf, bereit, die Probleme durch eine Law-and-Order-Politik auf einfache Weise zu »lösen«. Ein neues, positives Narrativ wird angeboten, das Hoffnung wecken soll, im Gegensatz zur eben noch beschworenen Apokalypse: die »Remigration«, die »Festung«, die »Normalität«.
Das »Wir«, fälschlicherweise als schweigende Mehrheit bezeichnet, wird in dieser Welt als moralisch gutes, wahrhaftiges Opfer fantasiert, »die anderen« als schlechter, unehrlicher Täter. Manchmal sind Juden, Muslime oder Roma in dieser Welt die Sündenböcke, manchmal Kapitalisten, Sozialisten, Karrierefrauen, oft ist es auch egal: In einem Land, in dem Rechtsradikale regieren, kann jeder und jede als potenziell gefährlich konstruiert werden, so- lang es strategischen Zielen nützt.
Nicht zufällig drohte Kickl beim Neujahrstreffen der FPÖ mit einer »Fahndungsliste«, die er schon erstellt habe, mit »Verantwortungs- flüchtigen« aus der Corona-Zeit. In dieser Sprache kündigt sich – in Deutschland wie in Österreich – ein autoritäres Regime bereits an.